Überdurchschnittlich viele Kinder aus der oberen Mittelschicht besuchen in den USA die begehrtesten Colleges. Das hat nur wenig mit vererbter Intelligenz zu tun, aber viel mit vererbten Privilegien.

Nannys, die eine Anstellung in den besseren Wohngegenden Amerikas anstreben, sollten über Kenntnisse in Erster Hilfe und einen einwandfreien Leumund verfügen – und über ein eigenes Auto oder mindestens einen Fahrausweis. Auto und Ausweis sind nicht nur darum wichtig, weil in den besseren Suburbs der öffentliche Verkehr meist eine Zumutung ist. Nein, oft geht es vielmehr darum, dass die Betreuerin die Sprösslinge vor und nach der Schule zu jenen Aktivitäten befördern muss, die neben vielen anderen Gründen einen gemeinsamen Zweck haben: Sie sollen den Kindern im Rennen um einen guten Studienplatz einen Vorsprung sichern.

Trainieren oder bestechen?

Zu den Instrumenten, die den Nachwuchs für den Wettbewerb rüsten sollen, zählen nicht nur alle Formen von Nachhilfestunden und die gezielte Vorbereitung für College-Eignungstests, sondern auch sportlicher Erfolg, Engagements in Schüler-Klubs oder Freiwilligenarbeit. Insgesamt mündet dies in eine erhebliche Belastung, sowohl für die Kinder, aber vor allem auch für die Eltern. Entweder diese haben Geld, mit dem sie die zeitraubende Betreuung sicherstellen, oder sie können es sich leisten, sich selber als Teilzeit-Transportunternehmen zu engagieren. Beides sind Dinge, die sich weniger Wohlhabende oft nicht leisten können.

Die höhere Bildung an einer guten Universität ist in Amerika die sicherste Eintrittskarte für ein materiell sorgenloses und beruflich erfülltes Leben. Dass Eltern versuchen, ihre Kinder für eine solche Zukunft möglichst gut vorzubereiten, kann ihnen niemand vorwerfen. Doch die Sache hat einen Haken, wie das folgende Beispiel zeigt. Da gibt es den amerikanischen Vater, der jeden Abend eine Stunde dafür opfert, mit seinem Sohn Baseball zu trainieren, um ihn in die Mannschaft seiner High School zu bringen. Ein anderer Vater dagegen besticht den Coach und sorgt damit dafür, dass es sein Sohn ins Baseball-Team schafft. Wertneutral gesehen, investieren beide Väter: der eine Zeit, der andere Geld. Was im zweiten Fall allerdings stört, ist der Umstand, dass die Bestechung des Trainers jenen tieferen Sinn des Sports verletzt, wonach der Beste gewinnen möge. Das Geld des Vaters hat nichts mit den Fähigkeiten des Sohns zu tun, nur mit dem Ehrgeiz des Vaters und der Gier des Trainers.

Das Beispiel stammt aus dem provokativen Buch von Richard Reeves, einem Forscher an der Brookings Institution. Der Titel, «Traum-Hamsterer» (Dream Hoarders), bezieht sich auf den «amerikanischen Traum», der jenen Erfolg verspricht, die hart arbeiten. Kurz zusammengefasst, vertritt Reeves folgende These: Die obere Mittelschicht der USA – also die obersten 20 Prozent der Einkommensskala abzüglich des obersten Prozents der Superreichen, die eine eigene Kategorie darstellen – ist unheimlich erfolgreich darin, ihre Kinder in guten Hochschulen unterzubringen. Dafür verwenden sie einerseits die erste Methode des Baseball-Beispiels, also die bestmögliche Vorbereitung. Gleichzeitig aber greifen sie zu Methoden, welche mehr mit Bestechung des Trainers zu tun haben, weil sie den Wettbewerb vorsätzlich zugunsten ihrer Sprösslinge verzerren.

Über den Zugang zu den besten Schulen, die auch die besten Zukunftsaussichten eröffnen, entscheiden – wenigstens theoretisch – die Leistungen, also die Noten aus der High School und das Resultat bei den Eignungstests für Colleges. Reeves bestreitet nicht, dass diese Leistungsbeweise immer noch eine wichtige Rolle spielen und deshalb auch Kinder aus bescheidenen Verhältnissen den Sprung in Eliteuniversitäten schaffen. Aber er unterstreicht, dass auch andere Kriterien eine Rolle spielen, die mit der Leistung der Kandidaten nichts zu tun haben. Und zudem macht er darauf aufmerksam, dass die bessere Leistung der Kinder aus der oberen Mittelschicht nicht nur auf einer allfällig höheren Intelligenz fusst, sondern zu einem wesentlichen Teil auch auf den Umständen, in denen sie aufwachsen.

Zu den Mechanismen, welche den Wettbewerb am stossendsten verzerren, gehören die «Legacy Admissions». Damit ist ein System gemeint, das den Kindern von Absolventen der gleichen Hochschule (Alumni) einen Bonus auf die Leistungsbilanz schlägt – ohne jegliches Zutun der Kinder. Eine Studie über 30 sehr begehrte Hochschulen, nicht ohne Ironie an der Harvard-Universität erarbeitet, fand heraus, dass die Bedeutung der «Legacy» erheblich unterschätzt worden war.

Finanzielle Schuhlöffel

Unter Kandidaten mit vergleichbaren schulischen Leistungen, Charakterzügen und ausserschulischen Aktivitäten stiegen die Erfolgschancen für eine Aufnahme bei jenen, die bereits ein Familienmitglied an der gleichen Schule hatten, um fast einen Viertel. Wenn dieses Familienmitglied ein Elternteil war, so stieg diese Bevorzugung um 45 Prozentpunkte an. Wer also ohne «Vorfahren an der Universität» alleine auf der Basis seiner Leistungen eine 15-prozentige Chance zur Aufnahme hat, erhält wegen der «Legacy» plötzlich eine Chance von 60 Prozent. Mit der Belohnung von Leistung hat das nichts zu tun, eher mit der Vererbung von Privilegien.

Ein weiteres Hindernis für den Zugang in eine Hochschule ist das liebe Geld. Dass eine Schenkung oder Spende zum richtigen Zeitpunkt die Tore einer Eliteuniversität auch dann öffnet, wenn der Nachwuchs nicht ganz so exzellent abschneidet, ist bekannt. Doch dazu kommen in den letzten Jahren noch andere Budgetzwänge. Als Ausweg bieten sich internationale Studenten und Studentinnen an, deren Studiengebühren oft um ein Mehrfaches höher sind als jene von Amerikanern. Sie zahlen quasi den vollen Tarif und sind darum von den Schulleitungen heiss begehrt. Viele Hochschulen öffneten darum Rekrutierungsbüros in Ländern mit hohen Studentenzahlen an amerikanischen Universitäten, etwa in China und Indien.

Das Resultat kann an jenen acht traditionellen privaten Universitäten im Nordosten der USA abgelesen werden, die sich ursprünglich in ihren Sportprogrammen zur «Ivy League» zusammenschlossen. Heute ist der Name gleichbedeutend mit begehrten Eliteuniversitäten: Brown (Rhode Island), Columbia (New York), Cornell (New York), Dartmouth (New Hampshire), Harvard (Massachusetts), Penn (Pennsylvania), Princeton (New Jersey) und Yale (Connecticut) gehören dem exklusiven Klub an. In diesen acht Universitäten wuchsen die Klassen der Studienanfänger in den zehn Jahren zwischen 2004 bis 2014 nur um 5 Prozent. Doch der Anteil der Ausländer stieg dabei um 46 Prozent. Das Resultat: Einheimische Kandidaten werden von ausländischen Studierenden, die den vollen Tarif zahlen, verdrängt.

In dieser Lage erweist sich die obere Mittelschicht in den USA als jene, die dem Druck am besten gewachsen ist. Das fängt nach Reeves in der Politik an, beispielsweise mit der Steuerbefreiung für Sparkonti, welche einmal das College bezahlen sollen. Das tönt nach sozialer Massnahme für die Schlechtergestellten, doch die Früchte dieses Plans kommen zum überwiegenden Teil der oberen Mittelschicht zugute. Wer nicht um finanzielle Hilfe ersuchen muss, kann sich direkter und früher in einem College bewerben und hat dadurch die besseren Aufnahmechancen.

Eine weitere Geheimwaffe der oberen Mittelschicht sind die Zonenpläne für ihre Wohnquartiere. In den USA gehen die Kinder meist dort zur Schule, wo sie wohnen. In wohlhabenden Gegenden stellen die Eltern mit privaten Spenden sicher, dass ihre Schulen die besten sind, was wiederum weitere Wohlhabende anzieht und die Immobilienpreise in Schwung hält.

Eine Änderung der Zonenpläne, die beispielsweise auch in Einfamilienhaus-Quartieren den Bau von Wohnblocks mit erschwinglicheren Apartments erlaubte, wird bis aufs Blut bekämpft, mit dem Argument, diese würden weniger Wohlhabende anlocken und damit den Wert der existierenden Immobilien gefährden. Das mag sein. Doch ist es einfach Zufall, dass mit dem Verbot der Ansiedlung von weniger Betuchten der Zugang zu den besten Schulen – und damit ein Vorteil im späteren Rennen um die besten Studienplätze – den Wohlhabenderen vorbehalten bleibt?

Um die wilde Entschlossenheit der oberen Mittelschicht zu verstehen, unterstreicht Reeves im Gespräch das Konzept der absoluten und der relativen sozialen Mobilität am Beispiel einer Rolltreppe. Bei der absoluten Mobilität wird einfach die Aufwärtsbewegung der Treppe gemessen, auf der alle mitfahren. Bei der relativen Mobilität geht es um die Position auf der Rolltreppe. Die Nachkriegsjahre haben im industrialisierten Westen die Mehrheit der Bevölkerung stetig nach oben transportiert. Der Kampf um die Rangfolge, also die relative Mobilität, war nicht besonders heftig, schliesslich ging es mit fast allen aufwärts. Doch Reeves ist überzeugt, dass die Wachstumsraten dieser Periode eine Ausnahmesituation waren. Und wenn die Treppe nun langsamer oder gar nicht mehr nach oben rollt, so wird der Positionskampf wichtiger.

Während es bei der absoluten sozialen Mobilität mit allen auf- oder abwärts gehen kann, ist der Kampf um die jeweilige Rangfolge ein Nullsummenspiel. Wo es Aufsteiger gibt, muss es zwingend auch Absteiger geben. Doch Absteiger will niemand sein. «Die soziale Mobilität nach unten ist beeindruckend unbeliebt», sagt Reeves mit englischem Understatement. In anderen Worten: Das gilt es zu verhindern. In Anlehnung an die metaphorische «gläserne Decke», die den Aufstieg von gewissen Bevölkerungsgruppen systematisch verhindert, spricht Reeves von einem gläsernen Boden, den die obere Mittelschicht einzieht. Dieser soll den sozialen Abstieg ihrer Kinder verhindern.

Welche Chancengleichheit?

In ihrem Abwehrkampf gegen das Risiko eines Abstiegs ist die obere Mittelschicht in den USA derart erfolgreich geworden, dass sie in den Augen Reeves durch die Hintertüre eine Klassengesellschaft errichtete, die rigider ist als in seiner britischen Heimat. «Wenn ich Besuchern beweisen wollte, dass ausgerechnet in Amerika mit seinem Traum vom Erfolg der harten Arbeit eine Gesellschaft entstanden ist, die Privilegien über Generationen wie ein Erbgut weitergibt, dann muss ich sie nur in die Schulen schicken, in die Elitehochschulen, in die staatlichen Universitäten und in die Fachhochschulen. Dort brauchen sie sich nur die Herkunft der Studierenden anzuschauen.»

Aus einer jüngeren Forschungsarbeit geht hervor, dass die obere Mittelschicht rund 40 Prozent der Studierenden an begehrten Colleges stellt, obwohl sie nicht einmal 20 Prozent der Bevölkerung ausmacht. «Wenn man Eliteschulen wie Harvard anschaut», sagt Reeves, «steigt dieser Anteil auf 70 Prozent. Das ist in einer Gesellschaft, die Leistung belohnen will, ungesund.» Wenn es um die Zukunft der eigenen Kinder gehe, nehme es die obere Mittelschicht trotz den Lippenbekenntnissen für Chancengleichheit in Kauf, dass jene, die das Rennen in den hinteren Rängen beginnen müssten, auch hinten bleiben würden. «Auch wenn sie die Besseren wären.»

Peter Winkler, Washington 8.11.2017, 06:00 Uhr

 

FUENTE: NEUE ZÜRCHER ZEITUNG