«Der Aufstieg des Populismus ist eine Reaktion auf die Verarmung des öffentlichen Diskurses» 
Der amerikanische Philosoph Michael Sandel hat mittlerweile einen Status vergleichbar mit dem eines Pop-Stars. Durch die Nutzung der sozialen Netzwerke litten die Menschen heute an einer kollektiven Aufmerksamkeitsstörung, sagt er im Gespräch.

Als das Internet aufkam, dachten wir, dass dies unsere Gesellschaften demokratischer machen würde: Negative Entwicklungen würden nicht lange unentdeckt bleiben, Fakten könnten schneller überprüft, Falschmeldungen leichter aufgedeckt werden. Nun hat man allerdings eher den Eindruck, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Zerstört gar das Internet die Demokratie?

Wir dachten tatsächlich für einige Zeit, dass das Internet der Demokratie nützen würde. Es würde die Kommunikation zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen vereinfachen, und es würde die Zensur erschweren, weil die Menschen viel direkter miteinander kommunizieren können, um nur zwei Beispiele zu nennen. Das war die Basis für den Optimismus, den wir zu Beginn hatten. Jetzt aber sehen wir die dunkle Seite, die Gefahr, die das Internet für die Demokratie darstellt. Die Unternehmen, die auf diesem Feld dominieren, sind so gross und mächtig geworden, dass wir andere Regeln brauchen. Die Situation erinnert dabei durchaus an das frühe 20. Jahrhundert, als durch die industrielle Revolution grosse und mächtige Monopole entstanden waren. Die Social-Media-Unternehmen heute sind de facto Monopole. Und Monopole stellen stets eine Gefahr für die Demokratie dar.

Monopole, die sehr viel über uns wissen . . .

Ja, das ist die zweite Gefahr, und die hat mit dem Geschäftsmodell dieser Firmen, wie etwa Facebook, zu tun. Sie verdienen ihr Geld damit, dass sie grosse Mengen an persönlichen Informationen der Nutzer sammeln und diese dann an Werbekunden verkaufen. Das berührt die Privatsphäre der Menschen. Es geht aber auch noch um einen weiteren Aspekt, der unmittelbar dazugehört: Das beschriebene Geschäftsmodell funktioniert nur, wenn immer neue Daten zur Verfügung stehen. Befördert wird also eine ganz bestimmte Art der Nutzung, die auf Ablenkung beruht. Mit der Ablenkung sinkt aber gleichzeitig unsere Fähigkeit, aufmerksam zu bleiben. Denken wir hier etwa an den Bildungssektor. In vielerlei Hinsicht kann das Internet zwar das Unterrichten unterstützen . . .

. . . was ja auch zu einem Teil persönlich Ihren Erfolg ausmacht, wenn ich an die Vorlesungen denke, die man von Ihnen online verfolgen kann . . .

Ja, aber gleichzeitig denke ich, dass wir zu Tode abgelenkt sind. Die Nutzung der sozialen Netzwerke, wie wir sie heute beobachten, hat bei den Menschen eine kollektive Aufmerksamkeitsstörung zur Folge. Ich stelle immer wieder fest, wie schwierig es ist, die Konzentration meiner Studenten aufrechtzuerhalten. Denn die hat sich radikal verkürzt und verringert. Ich verbiete deshalb inzwischen alle elektronischen Geräte in meinem Unterricht.

. . . weil Appelle an die Vernunft nicht fruchten?

Weil Social Media für viele Menschen unwiderstehlich sind. Es ist fast schon eine Sucht. Die Nutzer glauben, sie müssten permanent auf ihr Gerät schauen, um zu sehen, ob etwas passiert ist. Das ist natürlich sehr störend in einem Unterricht. Aber es ist vor allem eine schlechte Gewohnheit. Eine Gewohnheit, deren Folgen weit über den Klassenraum hinausgehen und zerstörerisch auf unser gesellschaftliches Leben wirken. Gesellschaftliches Leben erfordert ein bestimmte Mass an Aufmerksamkeit, Überlegen, Zuhören, Lernen, Argumentieren, die Fähigkeit, logische Schlussfolgerungen zu ziehen. Das verlangt eine bestimmte Präsenz des Menschen. Doch die Fähigkeit, aufmerksam zu sein, wird untergraben durch diese Geräte und die dazugehörige Technologie.

Lässt sich diese Entwicklung noch umkehren?

Es ist natürlich eine relativ einfache Sache, solche Geräte in einem Klassenzimmer zu verbieten, weil es sich da um geschlossene Räume handelt. Viel mehr aber müssen wir Wege finden, wie wir den Umgang grundsätzlich verändern. Und das geht nur über staatsbürgerliche Erziehung. Aufgefordert sind hier Schulen, Familien, die Medienunternehmen selbst. Sie alle tragen Verantwortung dafür, wie man die exzessive Abhängigkeit der Nutzer reduzieren kann.

Gibt es eine Verbindung zwischen der massiven Ablenkung einerseits und der Unterstützung des Populismus andererseits?

Ja, und zwar auf indirektem Weg. Der Aufstieg des Populismus ist eine Reaktion auf die Verarmung des öffentlichen Diskurses. Wir erleben zunehmend einen öffentlichen Diskurs, der keinen moralischen Gehalt mehr hat, der frei ist von Debatten über politische Identitäten und gemeinsame Ziele. Es gibt eine Reihe von Gründen, warum der Diskurs so flach und entleert ist. Eine Ursache hat mit der vom Markt getriebenen Version der Globalisierung zu tun, der wir in den letzten vier Jahrzehnten gefolgt sind. Das hat zu einem öffentlichen Diskurs geführt, der von einer technokratischen Sprache dominiert ist, die niemanden inspiriert . . .

. . . und von dem sich die Menschen abwenden?

. . . oder den sie gar nicht mehr führen können. Hier kommt wieder das permanente Abgelenktsein ins Spiel: Wir sind inzwischen schlecht ausgestattet, um Bürger im besten Sinne sein zu können. Wir sind immer weniger in der Lage, jene grundsätzlichen Debatten zu führen, die dringend notwendig sind. In der Konsequenz entsteht ein moralisches Vakuum. Früher oder später wird dieses Vakuum dann gefüllt von rauen, engstirnigen und intoleranten Kräften – und damit meine ich lauten Nationalismus oder Fundamentalismus.

Aber erlebten wir tatsächlich im Vor-Internet-Zeitalter eine so tiefgründige öffentliche Debatte? Verklären wir das nicht etwas?

Also ich sage jetzt nicht, dass wir eine Art goldenes Zeitalter des moralischen, informierten öffentlichen Diskurses hatten, wie etwa im Athen der Antike. Obwohl ich schon glaube, dass es damals im Vergleich zu heute besser war (lacht). Aber im Ernst: In den USA gab es etwa in den 1950er und 1960er Jahren ein intensives öffentliches Gespräch über die Bürgerrechtsbewegung oder den Vietnamkrieg.

Der immense Erfolg Ihrer Online-Vorlesungen und Ihrer öffentlichen Auftritte vor grossem Publikum zeigt aber zumindest, dass es noch immer einen Hunger nach einem substanziellen Diskurs gibt.

Es gibt in der Tat dieses Bedürfnis, und ich sehe das, wo auch immer ich spreche. Die Zuhörer kommen und suchen die Interaktion, sie wollen argumentieren mit mir. Die Menschen wollen in den Diskurs eintreten, und sie wollen das tun auf der Basis von gegenseitigem Respekt. Das macht mir Hoffnung. Hoffnung, dass ein besserer, reicherer Diskurs in der Lage sein wird, den scharfen Nationalismus, den wir gerade erleben, zu neutralisieren.

FUENTE: MARKUS ZIENER

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